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Hildegard Marcus: Spiritualität und Körper. Gestaltfinden durch Ursymbole, St. Benno-Verlag, Leipzig 1998, 275 Seiten, DM 29,80.

„Ursymbole" leiblich zu erfahren ist schon geradezu traditionell die Einladung des Meditativen Tanzens. Der tänzerische Nachvollzug der symbolhaften Tanzwegverläufe soll über die Formen von Kreis, Rosette, Fünfstern, Spirale usw. an uralte Weisheiten der Völker, ja ans „Göttliche" heranführen. Denn geometrische Formen faszinieren, seitdem es Menschen gibt und damit jemanden, der diese Formen erkennen und zeichnen kann. Besonders ihr Gleichmaß, das sich von dem vielen Unregelmäßigen der Natur abhebt, verleitet von jeher dazu, als Projektionsfläche für viele Sinnbilder – Symbole – genutzt zu werden. Weil diese Formen scheinbar durch alle Zeiten hindurch dazu animieren, sie mit elementaren Be-Deutungen zu belegen, werden sie zu vor- oder außergeschichtlichen Konstanten abstrahiert, ungeachtet ihrer geschichtlichen Vieldeutigkeit und Provenienz. Beispielsweise wird im Verlauf der Geschichte ein Dreieck sowohl als Symbol (göttlicher) Trinität als auch weiblicher Fruchtbarkeit interpretiert, also für sehr unterschiedliche Dinge. Aber weil es die gleiche elementare Form ist, wird häufig das immer wieder anders be-deutete Zeichen zum Subjekt oder Mysterium verselbständigt, das den Menschen etwas sagen, sie etwas lehren kann. Zu klären wäre dann sicherlich, was denn die Botschaft(en) eines Zeichens sein sollte(n) und wer diese festgelegt haben könnte. Aber eigentümlicherweise verleitet schon das bloße Auftauchen eines Zeichens in archaischen Zeiten dazu, solches Nachfragen ehrfurchtsvoll zu unterlassen (als ob die frühen Menschen nur weise gewesen seien und die späteren nur noch schwächere Einsichten hätten).
Für eine solche zeitlose Interpretation von (uralten) Zeichen beruft man sich auf Carl Gustav Jung mit seiner „Archetypen"-Hypothese, die sich trotz aller seit Jahrzehnten immer wieder festgestellten inneren und äußeren Widersprüche zu einem Selbstläufer entwickeln konnte. Denn Jung hatte bei seinen „Archetypen" nicht geometrische Formen, sondern Mythen und Personenkonstellationen im Blick, wird insofern von vielen Zeichendeutern ausgesprochen selektiv und nicht authentisch wahrgenommen. Zu den Interpretatoren der Jungschen Lehre gehörte auch Alfons Rosenberg, der die Rede von „Ursymbolen" verbreitete und dabei den Blick auf Bildliches lenkte. Als Christ nahm bei ihm das Kreuz eine zentrale Stellung ein, das er als die Grundstruktur der menschlichen Gestalt ausmachen zu können meinte. 
In ihrem Buch „Spiritualität und Körper", das hier besprochen werden soll, bekennt und erweist sich die Autorin Hildegard Marcus als eine kreative Schülerin Rosenbergs. Sie, die keine Berührungspunkte mit dem Meditativen Tanzen und mit Bernhard bzw. Maria-Gabriele Wosien hatte, geht gleichermaßen von der Wahrnehmung von „Ursymbolen" im leiblichem Tun aus – und ist noch mehr als Maria-Gabriele Wosien auf die Interpretation von Bildern bezogen. Allerdings gehen die Schulen des Meditativen Tanzens vom Nachvollzug der Symbolformen im Tanz und damit außerhalb des Leibes aus, während Hildegard Marcus die „Ursymbole" innerhalb des Körpers auszumachen weiß. 
Die Autorin bündelt in diesem nicht unaufwendigen Buch mit ca. 150 (vielfach photographischen) Abbildungen auf 275 Seiten zu einem ausgesprochen günstigen Preis „gewissermaßen ein Lebenswerk", das sie als einen „ganzheitlichen Bildungsentwurf" (17) empfindet. Mit diesem Entwurf will sie „Ursymbole in unserer eigenen, konkreten Körpergestalt aufzuzeigen, um sie wieder existentiell erlebbar zu machen (13).
Wesentlich inspiriert ist sie dabei wie gesagt von Alfons Rosenberg, von dem sie gelernt hat, den menschlichen Leib im Sinne von symbolischen Strukturformen zu in-terpretieren, die sie (wie Rosenberg) als „Ursymbole" bezeichnet. Doch was sind ihre „Ursymbole"? Marcus beschränkt sich – anders als Rosenberg, der lediglich bei dem ihm so wichtigen Kreuz eine geometrische Form, ansonsten aber etliche biblische und natürliche Dinge betrachtete – auf die Gerade (als Senk- und Waagerechte), das Kreuz, das Dreieck, das Quadrat, den Kreis, die Spirale und das Labyrinth, also auf ganz wenige geometrische Grundformen, eine Natur- und eine Kulturform. Der Grund dieser Auswahl bleibt das Geheimnis der Autorin, denn schließlich zählen nicht nur das Labyrinth und die geometrischen Grundformen zu den „ältesten Menschheitssymbolen" (200), sondern auch viel Figürliches. Ihre kritische Auseinandersetzung mit der Provenienz ihrer „Ursymbole" (so auch mit der Frühgeschichte) fällt ebenso mager aus wie deren nähere Bestimmung: Sie seien der „Ausdruck seelischer Lebensmächte" (24), zählten zu den „Archetypen", gründeten „im magischen Urbewußtsein, im Grundwasser der Frühe" (26), seien „abstrakte, kristalline, ein-same Urformen" (194), ihnen lägen jeweils „eine menschliche Ursituation zugrunde, etwas, das zutiefst menschlich und deshalb zeitlos ist" (230), sie seien „Darstellungen ewigen Wissens", und wie „Archetypen" stünden sie „zwischen Göttlichem und Menschlichen" (230). Begründungen solcher Behauptungen außer der gelegentlichen Berufung auf Jung und Rosenberg sucht man vergebens: Es ist so! Es ist so, wie das Quadrat eben quadratisch ist (im Wortlaut: „Das Quadrat in seiner Eckigkeit ... ist quadratisch wie das Haus, das ich bewohne, wie das Feld ..." [25]). Die Dinge sind bei Hildegard Marcus beklemmend unkompliziert: Weil beim Menschen Sichtbares und Unsichtbares, Leibliches und Geistig-Seelisches zusammenfallen und „zusammenfallen" im Griechischen symballein heißt, kann gesagt werden: „Die Welt und der Mensch ist ein Symbol." (13) Symbol für was? 
Dann bricht sich die Materialflut, die die Autorin zu den jeweiligen Zeichen zusammengetragen hat, freie Bahn und versammelt eine gewaltige, eindrucksvolle Fülle von bildlichen Zeugnissen aus Geschichte und Gegenwart, biologischen Beschreibungen und Gedanken verschiedenster Autoren. Vom Sephiroth-Baum aus der jüdischen Kabbala über zeitgenössische Kunstwerke von Fontana, Klee, Schlemmer u.v.a., über ägyptische Ka-Darstellungen, die Krypta-Säule in Fulda, den tanzenden Shiva, einen aztekischen Schild, selbstverständlich das Labyrinth von Chartres bis hin zum UNO-Emblem usw. usf. geht die Betrachtung durch ungezählte Beispiele für das Vorkommen eben jener „Ursymbole". Eine solche Farbigkeit der Materialien läßt sich kaum im Überblick beschreiben. Man hat den Eindruck, als sei die Autorin wieder und wieder vom erneuten Auffinden bestimmter Formen und den von ihr gesehenen Zusammenhängen überwältigt worden. Dieses ganze Material stellt eine Fundgrube sondergleichen für mit Symbolen Arbeitende dar und birgt viele Anregungen, über das nachzudenken, was Menschen in Bildnisse(n) deuteten.
Nach Hildegard Marcus ist nun der Mensch eingebettet in dieses universelle Vorkommen der „Ursymbole", und zwar in der Weise, daß er in seinem Leib diese Formen wiederfindet. Die Gerade finde er in seiner Wirbelsäule, das Dreieck im Schultergürtel, das Quadrat in seinem Rumpf, die Kugel in seinem Kopf usw. Aber wo findet sich das Labyrinth? Nun, das Herz als Leibmitte sei mit der Labyrinthmitte zu vergleichen, meint die Autorin. Hier wie an vielen anderen Stellen leistet ihre Interpretationsfähig-keit Erstaunliches. Aber nicht unbedingt Zutreffendes: Die Wirbelsäule ist bekanntlich keine aufgerichtete Gerade (= Starre), sondern eine elegante und flexible Kurvenlinie aus zusammenhängenden Segmenten, da gibt es nichts dran zu rütteln. Und während die Kugel zwar als vollendete Form gelten mag, aber nichts als anstoßen kann, so sollte der menschliche Kopf dagegen besser sehr offen auf andere hin verstanden werden. Was helfen da schematische Reduktionen? Die scheinen jedoch bei Hildegard Marcus wohl zwingend zu sein: „Daß das Rumpfquadrat des Menschen meistens mehr einem Rechteck ähnelt, darf festgestellt werden, spielt aber für die psychologische und symbolische Formanalyse und für das eigene Formempfinden keine große Rolle." (80) Tatsächlich? Ist das der Ausdruck einer „befreiten Körperlichkeit", die die Autorin vermitteln will?
Der tatsächlichen Körperwahrnehmung können die in einem Anhang beigefügten 33 Körperübungen in der Eutonie von Gerda Alexander dienen. Der Bezug der Autorin zur Eutonie ergibt sich in der dortigen Schulung des Körperbewußtseins und Stärkung des Körperaufbaues. Hildegard Marcus folgt auch in dieser Praxis Alfons Rosenberg.
Erstaunlich ist es schon, daß solcherart die Praxis erst ganz am Ende des Buches zu finden ist. Lehrte nicht der Körper selbst am besten, was man über ihn sagen und schreiben könnte? Aber das gäbe wohl ein Vielerlei ab, schwerlich ein Ordnungs- oder Interpretationsschema. Hildegard Marcus aber will einordnen und deuten, sogar den Körper und das streng schematisch, weil dann alles „grenzenlos dazugehört" zu ihrer Ordnung. Die Bewunderung der Autorin scheint der Ordnung zu gelten, in die sich der Körper einfügt, nicht aber seinem schon alleinigen grandiosen Sosein, das sicher nicht weniger von der Schöpfung verkündet.
Richtig problematisch wird dies dann, weil die Autorin, wohl im Sog eines univer-salen Erklärungsschemas, eine solche Sammlung zusammenträgt, ohne deren Funda-ment aufzuarbeiten. Sicher, auch Jung und Rosenberg taten es nicht anders. Auch ihnen gingen wie Hildegard Marcus die Augen über, nachdem sie meinten, den geeigneten visuellen und interpretatorischen Schlüssel für das Geheimnis der Welt gefunden zu haben. Man sollte jedoch skeptisch sein, wenn etwas aus einem geheimnisvollen, nicht näher beschriebenen oder beschreibbaren Urgrund herkommen soll. Niemand, der solide Arbeit leisten will, kommt daran vorbei, sich über seine Prämissen und Grundlagen kritisch Rechenschaft zu geben, zumal die Diskussion über die „Archetypen"-Hypothese und die Symboltheorien hinlänglich bekannt ist und die archaischen Zeiten nicht mehr so unerforscht sind, daß man sie als numinos gelten lassen müßte. Ob man „Bewegungsarchetypen" kreiert wie Maria-Gabriele Wosien oder geometrische „Ursymbole" „archetypisch" als die Leibstrukturen ausmacht wie Hildegard Marcus – hier haben sich offensichtlich angebliche Urgestalten verselbständigt und dienen nun nach Bedarf als Baumaterial für die eigene Weltinterpretation. 
„Über den eigenen Körper mit den Ursymbolen verbunden zu sein, das ist wie die Entdeckung einer neuen Welt." (16) Der Autorin sei eine solche Begeisterung von Herzen gegönnt, doch was bedeutet diese Verbundenheit substantiell, wenn die besagten „Ursymbole" nüchtern betrachtet nichts weiter als eine Auswahl geometrischer Formen darstellen, die nun als die Strukturelemente des Lebens deklariert werden? „Meine Erfahrung ist, je mehr die Ur-Symbole in mir selbst zur Geltung kommen, ordnend, klärend und stärkend, um so strukturbewußter vermag ich meine Umwelt zu se-hen, um so mehr komme ich bei mir selber an, im Menschlichen, auf der Erde und im Kosmischen: die Formen als Gestalt wahrnehmend." (25) Ist das bereits Spiritualität? Es ist ein Gefühl einer großen Ordnung und des Eingebundensein darin. Solches mag man mit Hildegard Marcus als einen Gewinn ansehen.

Gereon Vogler
 
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