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Nanni Kloke: Harmonien. Meditation der Gebärde, Musikverlag Pan AG, Zürich 1996, 84 Seiten, DM 44,00.

Ein liebevoll ausgestattetes, wunderschönes – dankenswerterweise fest gebundenes – Buch hat Nanni Kloke mit „Harmonien. Meditation der Gebärde" herausgegeben. Jede Leserin, jeden Leser läßt sie durch die persönlichen Einführungen, die zutiefst ansprechenden Tuschezeichnungen und die Photos förmlich spüren, wie sie die Harmonieübun-gen, wie sie Tanz versteht: „... daß der Mensch in der eigenen Erfahrung von Bewegung und Tanz nicht nur körperlich, sondern ganzheitlich, also auch in seinem emotionalen und geistigen Erleben, angerührt wird." (14)
Die „begleitenden Worte" der Ärztin und Psychotherapeutin Hannelore Eibach zur Einführung machen den Rahmen des Buches deutlich: Die Harmonieübungen sind Bewegungsformen, die sich ganzheitlich um Standort und Gleichgewicht bemühen. Harmonie entsteht „aus der Polarität, aus der Vereinigung der Gegensätze in der Bezogenheit aufeinander", sie „entsteht im Raum der Ganzheit und fordert die Ganzheit, um wirksam zu werden." (7) Eibach setzt diese Übungen therapeutisch in Gruppen ein und hat dort vielfach „den intensiven Erfahrungswert bestätigt bekommen. Die Übungen erreichen uns auf einer tieferen Ebene als der sichtbaren und eröffnen damit einen Zugang zum Unbewußten. ... Die Teilnehmer berichteten von wohltuenden Empfindungen, von gutem Spannungsgefühl (Eutonie) und erwachender Kraft." (8f)
Welch große Chancen in den Harmonieübungen liegen, ist in der Praxis deutlich geworden; entwickelt hat sie Nanni Kloke, die ein Hochschulstudium in klassischem Ballett und Modernem Tanz absolviert hat, aus Unbefriedigtheit mit ihrem von „Wettstreit und Leistung bestimmten Alltag als Bühnentänzerin und Choreographin". In einer sehr persönlichen Weise schildert sie, wie es nach und nach „stiller wurde um einen Teil in mir" (11), aber eine „innere Stimme" nicht verstummte. Als sie auf diese hörte, begann sie ihren „neuen Weg". Die Harmonien bezeichnet sie heute als „wichtigsten Teil ihrer Arbeit" (11).
Das vorliegende Buch ist auf „Wunsch der Kursteilnehmer" (11) von Nanni Kloke entstanden und wohl auch, um ihre Urheberschaft der Harmonieübungen und Tänze öffentlich deutlich zu machen. Dieser Hintergrund umreißt im wesentlichen die angesprochene Zielgruppe: der in den vergangenen Jahren rasch wachsende Kreis ihrer Schülerinnen und Schüler. Für diese können die aufgeschriebenen Choreographien Erinnerungsstützen an erlebte Seminare sein. Für andere sind sie nach dem Buch nur schwer nachzuvollziehen, zum einen weil sie eben den ganzen Körper in Bewegung bringen und Gebärden schwer auf Papier zu bannen sind, zum anderen aber läßt durchaus auch die Tanznotation zu wünschen übrig. Bei einigen gelingt es selbst in dieser Art des Tanzes Geübten und Erfahrenen nicht, sie aus dem Buch zu erlernen, was ihren festen Bezug und ihre Gebundenheit an Nanni Kloke deutlich macht.
Sehr hilfreich und klar sind die geschilderten Aufwärm-, Lockerungs- und Kontaktübungen, die zur den Bewegungsabläufen und Kreistänzen der Harmonien führen. Sie zeugen von Klokes großem Verständnis für die Verfaßtheit des Menschen aus Körper, Geist und Seele.
Für die Übungen und Kreistänze hat die Verfasserin wahre Musikschätze gehoben. Durch ihre großenteils geringe Bekanntheit und dadurch, daß sie teilweise nur über Kloke selbst erreichbar sind, ist dies allerdings für fremde Leserinnen und Leser nicht erkennbar. Es handelt sich um weiche, wohlklingende und harmonische Stücke, die kraftvoll und doch zart viele Saiten im Menschen ansprechen und hervorragend einfühlsam von Nanni Kloke abgestimmt sind auf ihre Übungen und Kreistänze. Sie sind wunderbar geeignet zu lösen, zu öffnen, zu verbinden, zu integrieren, sie lassen lebendig werden und in diesem Prozeß Kraft schöpfen. Diese Fähigkeiten charakterisieren den Musikstil als durchgängig einheitlich (wie bei vielen Tänzern und Musikern) und stellen gleichzeitig ihre Begrenzung dar: So gehören zwar abgrenzende, kantige, aggressive Elemente und entsprechende Aspekte in Musik wie Tanz (wie beispielsweise das Stampfen) nicht zur Harmonie im engen Sinn, wie Kloke sie in ihrem Buch versteht. Ihr Einbeziehen wäre jedoch unbedingt zu wünschen, um nicht der Gefahr der Harmonisierung zu erliegen (vgl. auch Eibach in ihren einleitenden Worten Seite 8). Nur die Integration beider Pole führt zu reifer, stimmiger Harmonie.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Heranziehen von Elementen verschiedener asiatischer Religionen, ohne den jeweiligen Hintergrund zu vermitteln. Angesichts der großen Sensibilität der Harmonieübungen erscheint das als unverständlich. Die Übungen stehen für sich und bedürfen eigentlich keiner weiteren Rechtfertigung bzw. Herleitung. Werden sie aber mit „östlichem" (gemeint ist nicht präzisiertes „asiatisches") Gedankengut verbunden, macht dessen Verkürzung betroffen. Weder macht Kloke diesbezüglich ihr Selbstverständnis deutlich, noch wird sie in einem Mindestumfang den reichen „östlichen" religiösen Traditionen gerecht, wenn sie beispielsweise das chinesische Yin-Yang-Denken mit der Lehre der indischen Chakren vermischt. Bei der Überschwemmung des mitteleuropäischen Medien- und Kreativmarktes mit Elementen religiöser asiatischer Traditionen ist dies sehr zu beklagen. Einmal mehr werden sie benutzt, ohne daß eine echte Möglichkeit zum Dialog besteht.
Fragen bleiben auch offen im Verständnis der Autorin des Begriffs „Meditation". Da dieser heute in vielfältigster Bedeutung Verwendung findet, scheint eine Definition jeweils nötig. Immer steckt die „Mitte" in ihm, wie sich auch sämtliche Choreographien Nanni Klokes auf eine Mitte beziehen, die umkreist und verdichtet wird. Welches ist ihre Mitte?
Trotz der Fragen, die das Buch offen läßt, macht es neugierig, und dies mit Sicherheit auch Leserinnen und Leser, die Nanni Kloke nicht persönlich erlebt haben. Mit ihren Choreographien nimmt sie das Bedürfnis vieler Zeitgenossen nach erfahrbarer Sinnhaftigkeit auf, und es gelingt ihr, vieles davon in Bewegung umzusetzen.

Gabriele Koch
 
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